Mittwoch, Mai 15, 2013

HELDEN UND HERZ – ILIAS UND GILGAMESCH

Die ersten Groß-Epen der Weltliteratur

Das Epos GILGAMESCH entwickelte sich ab dem 4.Jahrtausend vor Chr. aus Erzählungen und Mythen im Zweistromland SUMER um einen sagenhaften König. Das Epos der ILIAS entwickelte sich im 2.Jahrtausend v. Chr. im frühesten Griechenland der Mykener aus Erzählungen und Mythen um einen sagenhaften Krieg.

Ein MYTHOS, -teils Götterlegende, teils Heldensage, teils Wirklichkeit, war Welt-Erklärung bei frühen Völkern, die noch keine Geschichte mit fixierten Daten kannten.

Das GILGAMESCH-Epos, aus verschiedenen viel älteren Erzähl-Strängen, um 1250 v. Chr. schriftlich gefasst, ist die Geschichte der verzweifelten Suche eines Mannes nach Unsterblichkeit.
Die ILIAS, um 750 v. Chr. geformt und schriftlich gefasst, ist die Geschichte von Kränkung und maßlosem Zorn eines Helden.

Die erzählte Zeit des GILGAMESCH-Epos umfasst einen langen, nicht bestimmbaren Zeitraum. Die erzählte Zeit der ILIAS umfasst nur 50 Tage aus dem letzten Jahr eines zehnjährigen Krieges, den man den TROJANISCHEN nennt.

Das Epos von dem König GILGAMESCH beginnt hochgemut, in der vollen Kraft und Mutwilligkeit einer königlichen Jugend.
Das Epos der ILIAS und seiner Helden beginnt ausgepowert und gereizt von enttäuschten Hoffnungen auf einen Sieg.
Beide großen Epen enden in der tiefernsten Einsicht, dass nur die Götter und das Schicksal, nicht Taten und Verdienste das Geschick der Menschen bestimmen.

Der Autor für das GILGAMESCH-Epos war wohl ein Mann aus dem semitischen Stamm der AKKADER, die um 2000 v.Chr. in SUMER (heutiger IRAK) eingefallen waren und beachtliche organisatorische und sprachliche Talente besaßen. Dieser Mann sammelte die uralten, mündlichen Erzählungen über den sagenhaften, jungen König der Stadt URUK und schrieb sie in Keilschrift auf Tontafeln nieder.
Der Autor der ILIAS ist – höchstwahrscheinlich – HOMER, der aus verschiedenen Erzählungen, die im 15. bis 13. Jh.v.Chr. in den Burgen und Palästen der altgriechischen ACHÄER vorgetragen wurden, das große Gedicht um den TROJANISCHEN KRIEG in Hexametern schuf.

Dass es diese Gesellschaft der griechischen ACHÄER in ihren Kleinkönigreichen wirklich gegeben hat, wurde von HEINRICH SCHLIEMANN durch seine Ausgrabungen in Mykene um 1870 glänzend bestätigt. Aus seinen prachtvollen Funden hat man die Vorstellung gewonnen, dass die altgriechischen Mykener, - die HOMER die ACHÄER nennt - eine Art aristokratischer Rittergesellschaft waren, nicht unähnlich unserer hochmittelalterlichen Gesellschaft. Höchste Geltung hatten Geschlechter-Ruhm und Bodenbesitz. Ein interner Codex forderte ritterliche Umgangsformen. Die angemessenen Beschäftigungen waren Krieg, Raub und Waffenübungen.
So beschreibt HOMER die Gesellschaft seiner ILIAS. Aus dieser Gesellschaft nimmt er das Personal für sein Epos.

Im GILGAMESCH-Epos ist eine Gesellschaftsordnung mit geformten Regeln nicht zu erkennen. Hier herrscht eine Willkür-Herrschaft, die ein junger, göttlich starker König über sein Volk bedenkenlos und nach Laune ausübt.

In beiden Epen bestimmt jeweils 1 Mann das erzählte Geschehen. In der ILIAS ist es der größte Held des Griechenheeres, ACHILL, halb göttlich durch seine göttliche Mutter THETIS. Im GILGAMESCH-Epos ist es der junge König Gilgamesch, zu Zweidrittel göttlich, zu Eindrittel Mensch.

Die Grundverschiedenheit dieser beiden Männer in der Reaktion auf ihr Schicksal macht den Reiz aus, die beiden großen Epen in ihrer Wirkung auf uns heute zu vergleichen.
Ziel der Betrachtung ist herauszufinden, ob die beiden Erzählungen uns heute noch eine brauchbare Botschaft vermitteln oder ob es „nur“ die unvergängliche Schönheit ihrer Gestaltung ist, die uns noch heute, wie das Publikum vor Jahrtausenden, fasziniert. Die Entscheidung darüber wird am Ende der Betrachtung stehen.

Der Inhalt der ILIAS

(Kurze Zusammenfassung. Das Epos selbst umfasst mehr als 15.000 Verse!)

Das Leitmotiv der ganzen Dichtung ist der ZORN; in erster Linie der Zorn des ACHILL, den HOMER mit der ersten Zeile seines Werks anspricht:
 „Singe mir, Muse, den Zorn des Peliden Achill!“
HOMER ruft die Muse der Erinnerung um Mithilfe an, um den Vorgang der uralten Geschichte (Den Krieg der Griechen gegen die Trojaner mehr als 500 Jahre vor ihm) richtig beschreiben zu können.

Seine Erzählung lässt HOMER mit einem Streit zwischen ACHILL und AGAMEMNON, dem „Gebieter des Heeres“ und König von Mykene, beginnen.
Am Beginn der ILIAS hat das Griechenheer schon seit fast zehn Jahren das reiche TROJA an den Dardanellen belagert, ohne es erobern zu können. In der nervtötenden Zeit machen die Griechen Raubzüge in die Umgegend, deren Beute sie geregelt teilen. Aus einer Beute bekommt ACHILL eine schöne Sklavin BRISEIS. AGAMEMNON, der oberste Heerführer der Griechen, erhält CHRYSEIS, die Tochter eines alten APOLLON-Priesters.
Als der alte Priester mit reichen Geschenken weinend die Rückgabe seiner Tochter erfleht, die ihm AGAMEMNON grob verweigert, schickt der Gott APOLLON die Pest ins Lager der Griechen und Agamemnon muss das Mädchen herausgeben.
In unbeherrschtem Zorn raubt daraufhin Agamemnon dem Achill, dem größten Helden seines Heeres, das Beutemädchen BRISEIS als Ersatz für sich und als Exempel seiner obersten Macht
Damit reizt er den fürchterlichen Zorn des Achill zu einer maßlosen Antwort:

„Trunkenbold du, mit dem Blick eines Hundes und dem Herz eines Hirsches!
 Volksgut verschlingender König, nur nichtige Leute beherrschst du!“

Und dann folgt der für das Griechenheer verhängnisvolle Schwur des ACHILL vor AGAMMEMNON:
„Also lautet der mächtige Eidschwur:
 Alle Söhne Achaias, sie sollen sich noch nach Achilleus
 Sehnen, und du wirst ihnen nichts nützen, so sehr du dich abhärmst,
 Wenn da unter den Händen des männertötenden Hektor
 Viele sterben und fallen und du dich im Innern zernagend
 Grämst, weil du nicht geehrt hast den besten aller Achäer!“

Die entscheidende Aussage im Vers ist wohl die letzte: „..nicht geehrt hast den besten aller Achäer!“ Hier geht es um Ehre, die ein hoher Adeliger des Heeres dem anderen nicht gezollt hat; womit er gegen den Codex der mykenischen Adelsgesellschaft verstößt. Verlässlichkeit von Rang-Achtung, von gegebenem Wort, von abgesprochenen Verträgen sind Stützpfeiler dieser Gesellschaftsordnung. Sie wurde von dem Heerführer und König AGAMEMNON selbstherrlich gebrochen und HOMER signalisiert mit seiner Szene:
Diese Gesellschaft hat ein Problem!
HOMER beweist hier, 500 Jahre nach der erzählten Zeit, neben aller Bewunderung für den alten Mykenischen Heldenadel einen objektiven Blick auch für die Schwächen dieser Gesellschaft. Diese Gesellschaftsordnung scheint nicht mehr intakt zu sein.

Die Gesellschafts-Frage spielt in der ILIAS eine verdeckte, aber erklärende Rolle.
HOMER steht in seiner Lebenszeit, im 8.Jh., an einer Umbruchzeit für die Griechenstämme. Nach mehreren ‚dunklen’ Jahrhunderten des Niedergangs der ehemaligen Blütezeit beginnt für die Griechen eine Erholung und Neu-Orientierung. Sie machen sich auf zur Gründung von Kolonien rund um das Mittelmeer, schaffen Städte und erfinden neue Gesellschaftsformen, die ihrem beweglich gewordenen Geist besser passen als die Form der alten Mykenischen Aristokratie.
In Jahrhunderten des Ausprobierens - mit Fortschritten und Rückschlägen - entsteht daraus die neue Gesellschaftsform der DEMOKRATIE = Herrschaft des Volkes.
Den beispielhaften Reifepunkt dieser Entwicklung wird Jahrhunderte später die Stadt ATHEN repräsentieren.

Die frühen Neu-Siedler in den Kolonien übernehmen die Verwaltung ihrer überschaubaren Siedlungsgebiete gemeinsam. Eine gegründete Stadt nennen sie POLIS, Gemeinschaftssitz aller Bürger. Die neue Zeit kündigt sich an.
Diesen beginnenden Zeitenwandel scheint HOMER erkannt zu haben und irgendwie hat seine kreative Idee für die ILIAS damit zu tun. Es scheint ihm ein Anliegen gewesen zu sein, seinen zeitgenössischen Griechen mit seiner Dichtung ihre große Vergangenheit zu präsentieren und ihnen für ihre zukünftige Entwicklung einen Weg zu weisen, den Geist ihrer Gründungsepoche hochzuschätzen und dabei deren Fehler nicht zu wiederholen. HOMER als Lehrer seines Volkes. Nicht umsonst wurde seine ILIAS zum Lehrstoff an allen antiken Schulen!

Und nun weiter zur HANDLUNG DER ILIAS!
Das Griechenheer vor TROJA war durch den Streit seiner beiden obersten Identitäts-Personen verunsichert. Es gibt Diskussionen. Der Kampfgeist vor Troja lässt nach. Aber ODYSSEUS und der alte NESTOR können die Kämpfer wieder stabilisieren.
ACHILL allerdings verweigert nach seinem Schwur jede weitere Mithilfe im Kampf!
Damit scheint das Schicksal des Griechenheeres besiegelt. Die Trojaner rücken Stück um Stück vor zu den Schiffen der Griechen, während ACHILL schmollend im Zelt sitzt und alle Hilferufe um seinen Beistand ablehnt.
Der Trojanische Königssohn HEKTOR kann soweit heranrücken, dass er Feuer in die Schiffe werfen und den Griechen damit jeglichen Rückzug in die Heimat abschneiden kann.
Da lässt sich ACHILL zu einem halbherzigen Kompromiss herab. Er stattet seinen geliebten Freund PATROKLOS mit seinen eigenen Waffen aus, um HEKTOR zum Zweikampf herauszufordern und zu töten.
Getötet wird PATROKLOS. HEKTOR bleibt Sieger.

Aber das Schlachtenglück sollte sich wieder wenden.
„ZEUS aber mehrt die Tugend den Männern und mindert sie wieder,
 wie er es eben will; denn er ist der Stärkste von allen.“

Parallel eröffnet HOMER eine zweite Handlungsebene: Die Götterversammlung im Himmel, die leidenschaftlich an dem irdischen Konflikt teilnimmt. ATHENE, HERA, POSEIDON und HEPHAISTOS, der göttliche Waffenschmied, wünschen die Achäer zu unterstützen; APOLLON, APHRODITE, ARES, der Kriegsgott, und zeitweise ZEUS wollen die Trojaner siegen lassen.
ZEUS und seine Frau HERA streiten sich darüber heftig, bis Hera den Zeus im Liebeslager ablenkt und einschläfert.
Als er aufwacht und sich von Hera getäuscht sieht, beschimpft er sie mit so unbeherrschter Wut, wie sich Achill und Agamemnon auf Erden beschimpft hatten:

„Jetzt hat deine heillose List, unselige Hera,
 Hektor außer Gefecht gesetzt, die Mannen vertrieben,
 Wahrlich, ich weiß nicht, ob für die eingefädelte Tücke
 Du nicht den Lohn beziehst und ich mit Schlägen dich peitsche!
 Oder gedenkst es dir nimmer, wie ich dich von oben her aufhing,
 Hängte zwei Ambosse dir an die Füße, und dir um die Arme
 Legt ich ein goldenes Band, unbrechbar, in Äther und Wolken
 Hingst du; die Götter waren empört im weiten Olympos.
 Daran erinnere dich wieder, dass mit Betrügen du aufhörst!’
 Sprach es, und Schaudern ergriff die rinderäugige Hera…“

HOMER zeichnet ein Abbild der himmlischen Bosheiten von den irdischen. Seine Götter benehmen sich nicht erhaben, sondern zuweilen unbeherrscht, verschlagen, wankelmütig wie die Menschen.
Die HOMER-Forschung meint, dass die ILIAS-Darstellung der Olympischen Götter erheblich zur Entwicklung einer nationalen griechischen Religion beigetragen hat. Wenn das so ist, so ist die Skepsis des HOMER daran schuld, dass die griechischen Götter ziemlich menschlich geraten sind.

Auf Erden sitzt ACHILL währenddessen wieder im Zelt und weint fassungslos um den geliebten Freund PATROKLOS:
Sein rasender Zorn wendet sich ab von AGAMEMNON auf HEKTOR. Er ruft seine Mutter THETIS an, ihm neue Waffen machen zu lassen, zum Kampf gegen HEKTOR. Seine göttliche Mutter erscheint, verspricht ihm die Waffen, aber prophezeit ihm unter Tränen:
„Kurzlebig wirst du sein, mein Kind,..
 Denn sehr bald nach Hektor ist dir das Ende beschieden“

Ohne Zögern entscheidet sich ACHILL für Ruhm statt Leben:
„So auch ich. Wenn mir ein gleiches Schicksal beschieden,
 liege ich tot. Doch jetzt will edlen Ruhm ich gewinnen!...
 Halt mich aus Liebe nicht ab vom Kampf, du beredest mich nimmer!“

Im GILGAMESCH-EPOS wird die Entscheidung zwischen Ruhm oder Leben genau umgekehrt ausfallen. Bei dem jungen König wird die Überwältigung durch Todesangst alle anderen Ziele auslöschen.

ACHILL, mit den strahlenden Waffen seiner Mutter, sucht die Konfrontation mit Hektor, der von seinen Beratern vor einem Kampf mit Achill außerhalb der schützenden Mauern gewarnt wird.
„Aber es stand unauslöschlichen Mutes und ohne zu weichen
 Hektor und lehnte den schimmernden Schild an den Vorsprung des Turmes“

 An dieser Stelle bremst HOMER die Handlung mit einer psychologisch präzise gezeichneten Situation.
 Der strahlende HEKTOR bekommt während des Wartens Angst vor ACHILL!
 Er denkt an Verhandlung.
 „Nein, ich will ihm nicht nahn, er würde mich ohne Erbarmen,
 ohne Achtung und Scheu, den Waffenentblößten, ermorden.“
Er kommt ins Sinnieren, ob es nicht besser sei, die HELENA, die ja einst der Ursprung des Krieges war, mit all ihren Schätzen den Achäern zurückzugeben, um den Krieg zu beenden und sich zu retten.
„Also sann er und blieb, da nahte bereits ihm Achilleus“
HEKTOR flüchtet sofort und ACHILL treibt ihn vor sich her:
„So umkreisten die beiden dreimal des Priamos Feste
 Auf den geschwinden Füßen; die Götter bemerkten es alle.“

Die Götter greifen ein. Die verkleidete ATHENE täuscht den HEKTOR mit einem ermunternden Zuspruch zum Kampf und HEKTOR stürmt getäuscht dem ACHILL entgegen Dieser sucht ohne Zögern die verwundbare Stelle an der Kehle des Gegners:
„Da hinein stieß dem Stürmenden nun mit der Lanze Achilleus
 Bis gegenüber durchfuhr den zarten Hals da die Spitze.“

Sterbend prophezeit HEKTOR dem ACHILL den baldigen Tod:

 „An dem Tage, an dem wohl Paris und Phoebos Apollon
 Dich, so tapfer du bist, vernichten am Skäischen Tor!’
 Als er dies gesagt, umfing ihn das Ende des Todes
 Und die Seele entfloh aus den Gliedern hinunter zum Hades“.

Mit der Konfrontierung von Hektor und Achill zeichnet HOMER zwei Heldenbilder, auf die es ihm offensichtlich ankommt. Der strahlende tapfere HEKTOR, bei den griechischen Schiffen noch so siegreich, wird vor ACHILL von Todesangst ergriffen. ACHILL dagegen zeigt trotz der Prophetie seines Todes keine Spur von Angst, sondern nur Sucht nach Rache und Ruhm..
Der eine bleibt tapfer „mit eisernem Herz“, der andere verfällt der menschlichen Angst. Der eine ist Grieche - der andere Trojaner! Will HOMER seine Zuhörer auf diesen Unterschied aufmerksam machen? Am Ende der ILIAS wird man sich diese Frage noch einmal stellen.

Der wütende Zorn des Achill ist mit dem Tod HEKTORS nicht gestillt. Er bestattet als erstes seinen toten Freund PATROKLOS mit größten Ehren und Aufwand, dann aber durchbohrt er die Fersen des toten HEKTOR mit Lederriemen, bindet die Leiche hinter seinen Wagen und schleift sie in schlaflosen Nächten zwölf mal um die Stadt Troja. Er beschließt, die Leiche den Hunden zum Fraß zu geben. Das ist für den antiken Menschen das Schlimmste. Ohne ehrendes Begräbnis ist ihm ein Schattenleben im Hades versperrt.
„Mitleid erfasste die seligen Götter, die es mit ansahn.“

ZEUS schickt THETIS, die Mutter, zu ACHILL, um ihn zu tadeln:

„Er kennt wie ein Löwe nur Wildes, der in die Herden der Sterblichen dringt,..
 So hat Achilleus das Mitleid verloren, es mangelt die Scheu ihm!“

HOMER stellt sich deutlich gegen seinen Helden. Er weist hier neben allem Glanz des ACHILL auf dessen negative tierische Seite hin. Zu einem Menschen gehört das Mitleid!

Im Stück beauftragt ZEUS die Mutter mit der Botschaft, ACHILL solle PRIAMUS, dem alten Vater und König von Troja, seinen Sohn zur ehrenhaften Bestattung ausliefern. Die Götter würden den ehrwürdigen Alten unbemerkt ins Griechenlager bringen und beschützen.
Endlich überwindet ACHILL den Zorn und empfängt den Alten in schützender Nacht.

„Als das Verlangen nach Brot und Speise gestillt war,
 Staunte der Darnaide Priamus an den Achilleus,
 Welcher er war und wie groß; er glich den Göttern an Aussehen.
 Doch auch über den Darnaiden staunte Achilleus.
 Als er sein gütiges Antlitz sah und reden ihn hörte“

Unter dem Einfluss des gütigen alten Vaters löst sich endlich der starre Zorn, der durch das ganze Epos durchgehalten wurde. HEKTORS Leiche wird dem Vater übergeben. Die Troer feiern unter Wehklagen der ganzen Stadt das große Begräbniszeremoniell für den Königssohn HEKTOR - und die ILIAS ist aus!

Man ist verblüfft! Der Fall der Stadt TROJA wird nicht erwähnt, kein Wort von der List des ODYSSEUS mit dem Hölzernen Pferd, keine Erklärung, wie sich die Prophezeiung von ACHILLS Tod erfüllt. Von all dem steht in der ILIAS nichts. Das wissen wir alles aus früheren und späteren Sagen um TROJA!

Es bleibt ein nicht ganz geklärtes Rätsel, warum HOMER aus dem gewaltigen Stoff um den TROJANISCHEN KRIEG sein Epos auf rd. 50 Tage beschränkt hat.
Was will HOMER mit diesen 50 geschilderten Tagen, die er mit 16.000 Versen besingt und in denen wenig anderes geschieht als dramatische Kämpfe zwischen berühmten Helden, deren berühmte Geschlechter mit Namen genannt werden?

Da könnte ein Motiv liegen. Wollte HOMER einen Helden-Gesang singen auf den Stamm der Griechen, ein Gründungsgedicht für seine Griechen, die von den glänzenden Achäern vor Troja abstammen? Der Trojanische Krieg bildet eine Folie, vor der sich große Helden gut abheben, kleine Leute kommen darin nicht vor. Dort tummelt sich, was aus alten Geschlechtern stammt und tapfer erkämpften Ruhm höher als zu leben schätzt. Für ein Lied auf solche Helden war der Trojanische Krieg der geeignete Schauplatz. Auf ihm wird vorgeführt am Beispiel von Kampf zwischen einem Griechen ACHILL und einem Trojaner HEKTOR, von welchem Geist die Griechen sind. Dass dieser Kampfgeist getrübt ist durch rücksichtslose Härte, verschweigt HOMER nicht. Aber in seinem Lied geht es ihm um den griechischen Ruhm.
Die ILIAS - ein National-Epos? Vielleicht.

Das GILGAMESCH-EPOS

ist älter, kürzer und nicht ganz lückenlos. In Keilschrift auf 11 gebrochene Tontafeln geritzt, wurde es erst im 19.Jh. unvermutet bei Ausgrabungen in NINIVE gefunden. Das Zusammenfügen der Tonscherben zu einer folgerichtigen Geschichte des Königs von URUK, Gilgamesch, war eine archäologische Meisterleistung und eine literarische Sensation.

Jede der 11 Tafeln enthält mehrere Handlungsschritte.

1.Tafel:
Einleitend wird der junge König gepriesen.
„’Gilgamesch’ ist er seit dem Tage, da er geboren, mit Namen genannt.
 Zwei Drittel an ihm sind Gott, doch sein drittes Drittel ist Mensch…
 Jener ist strotzend an Kraft und von strahlender Schönheit..
 Stattlich ist seine Statur, elf Ellen hoch ist er gewachsen.
 Bartbewachsen seine Wangen, wie Lapislazuli schimmernd sein Bart..
 Seiner Haarmähne Locken sprießen so üppig hervor wie Nissaba selbst.
 Als er heranwuchs, ward er in seiner Lebensfülle vollkommen.
 Wunderschön war er gebaut, wie es der Erde angemessen.“

Aber als König herrscht er in URUK wie ein ungehobelter Kraftprotz. Für seine Launen müssen die Männer der Stadt ständig bereit stehen, sei es zum „Ballspiel“ oder zum Mauerbau. Er lässt die Männer nicht zu ihren Frauen und beansprucht bei den Frauen ‚das Recht der 1.Nacht’
Es entwickelt sich steigender Grimm vor allem unter den jungen Frauen der Stadt. Die rufen die mächtige Stadtgöttin ISCHTAR an, ihnen gegen den selbstherrlichen König zu helfen. ISCHTAR mit dem Himmelsgott ANUM, ihrem Vater. beschließen, dem GILGAMESCH einen Gefährten zu erschaffen, der ihn beschäftigt und bändigt. ARARU, die Göttin des Lebens, bekommt dazu den Auftrag

„Als Araru dieses vernahm, erschuf sie in ihrem H e r z e n Anums Befehl,
 Dann wusch sich Araru die Hände,
 Kniff Ton ab und warf ihn herab in die Steppe.
 In der Steppe erschuf sie Enkidu, den Helden..
 Dicht behaart war er an seinem ganzen Leibe,
 Versehen mit Locken wie eine Frau..
 Nicht sind ihm die Menschen, und nicht das Kulturland bekannt.
 Er frisst mit den Gazellen das Gras,
 Mit wilden Tieren labt er sich am Wasser.
 - es sah ihn der Fallensteller, und dessen Züge erstarrten.“

ENKIDU, der Tier-Mensch, verscheucht dem Fallensteller, der in Uruk zu den armen Leuten gehört, die lebensnotwendige Beute. Der fragt seinen Vater um Rat. Der Vater schlägt vor, den König zu fragen und GILGAMESCH rät:
„Geh, mein Fallensteller, mit dir führe Schamkat, die Dirne.
 Wann denn das Wild herankommt zur Tränke,
 Dann werfe sie ab ihr Kleid, sie enthüll’ ihre Wollust!
 Sieht er sie erst, so wird er ihr nahn,
 Doch sein Wild wird ihm untreu, das aufwuchs mit ihm in der Steppe“

„Sechs Tage und sieben Nächte war Enkidu auf,
 Dass er die Schamkat beschlief.
 Als er von ihrem Genusse satt war,
 Richtete er sein Antlitz hin auf sein Wild.
 Da sie ihn, Enkidu, sahen,
 Sprangen auf und davon die Gazellen.
 Anspringen ließ Enkidu seinen gereinigten Leib,
 Doch ihm versagten die Knie, da hinwegging sein Wild.
 Er aber wuchs, ward weiten Sinnes,
 Kehrte um und setzte sich zu Füßen der Schamkat,
 Der Priesterin, wie sie redet, hören seine Ohren.“

Schamkat, die Tempel-Dirne, lehrt ENKIDU, zu leben wie die Menschen, lehrt ihn die Ethik von Freundschaft und Treue, lehrt ihn, was ‚Kulturland’ ist Sie lockt ihn in die Stadt Uruk zu GILGAMESCH.
In den Nächten zuvor hatte ISCHTAR dem Gilgamesch im Traum einen starken Gefährten angekündigt.

2.TAFEL
Vor einem Hochzeitshaus in Uruk treffen die beiden Helden aufeinander. Der König will bei der Braut sein ‚Recht auf die 1.Nacht’ vollziehen. ENKIDU versperrt ihm empört den Weg.
„Sie gerieten auf der Straße in Streit, im Marktviertel der Stadt.
 Die Türwangen bebten, die Wände wankten.“
Der Kampf zwischen den beiden gleich Starken endet unentschieden.

„Da fassten die beiden einander, und gemeinsam setzten sie sich hin.
 Sie schlossen sich in die Arme und ihre Hände lagen ineinander.“

Sie wurden Freunde.
So ein einfacher inniger Ton, wie er in der Freundschaftsszene des GILGAMESCH klingt, findet sich in der ILIAS nie.

In der aufflammenden Freude, in dem gleich Starken den angekündigten Gefährten gefunden zu haben, verwickelt Gilgamesch ihn sogleich in ein möglichst riskantes Abenteuer: sie sollen zusammen HUMBABA, den schrecklichen Wächter des Zedernwaldes, ein Mischwesen aus Adler und Löwe, besiegen und die höchsten Zedern zum Tempelbau nach URUK schiffen. Eine königliche Tat; denn Holz war rar in den Steppen von SUMER.
Enkidu rät ab; er kennt besser als Gilgamesch die Natur mit ihren Schrecken außerhalb der schützenden Mauern der Stadt..
„Wie könnten wir, mein Freund, zum Zedernwalde gehen?
 Humbaba - seine Stimme ist die Sintflut, sein Mundwerk ist das Feuer, und sein Atem ist der Tod!
 Und den, der in seinen Wald eindringt, wird die Lähmung packen!“

 Gilgamesch spottet über die Furcht des Freundes. Er lacht ihn überheblich aus. Sein Entschluss steht fest.
„’Komm her, mein Freund, ich will zum Waffenschmied eilen!’
 Zum Waffenschmied eilten da beide gemeinsam.“

3. TAFEL
Vor ihrem Auszug will Gilgamesch für sich und Enkidu den schützenden Segen seiner Mutter, der weisen Göttin NINSUN erbitten. NINSUN, in größter Sorge, ruft den Sonnengott SCHAMASCH an, dessen Liebling Gilgamesch ist.

„Sie wusch sich strahlend rein mit Wasser,
Sie hüllte sich in ein Gewand aus dünnstem Stoff, zur Zierde ihres Körpers,
Sie trug den Brustschmuck mit dem Hirsch, zur Zierde ihrer Brust.
Mit ihrem Diadem war sie geschmückt und hatte ihre Krone angelegt.
Sie stieg aufs Dach und stellte vor Schamasch ein Räucherbecken auf.“

Aufs innigste bittet NINSUN um Schutz für ihren Sohn: der Sonnengott möge die 13 Winde auf das Gesicht des HUMBABA loslassen, wenn es zum Äußersten komme. Der Sonnengott SCHAMASCH möge, wenn er durch den Tunnel (der Nacht!) geht, den Mondgott für Gilgamesch sorgen lassen. Dafür wünscht ihm NINSUN einen guten Sonnenlauf: „Schnell mögen deine flinken Maultiere dich auf deiner Bahn nach vorne bringen!“

Gilgamesch und Enkidu ziehen mit ihrem Segen aus der Stadt und alle jungen Männer begleiten sie erleichtert. Enkidu sagt zu Gilgamesch:
„Mein Freund, schicke alle d i e s e Leute zurück,
Die Straße ist ein Weg, der für diese Leute nicht geeignet ist“

Für die Inhaltsbeschreibung der beiden Epen werden möglichst oft originale Text-Teile herangezogen. Nicht um zu langweilen, sondern um den unterschiedlichen Charakter des Sprachstils in den beiden Dichtungen, die in einem Abstand von rd. 500 Jahren aufgeschrieben wurden, erlebbar zu machen.
Im GILGAMESCH steht eine kräftige, ungeniert sinnliche Sprache, die fühlen lässt. In der Handlung und im Motiv-Bereich spielt das ältere GILGAMESCH ganz im mythisch märchenhaften Raum des Orients.
Die ILIAS glänzt mit einer durch Hexameter streng beherrschten, mit Bildvergleichen prächtig geschmückten Sprache. Mit ihrer rational geplanten Handlungsstruktur (gezielte Vor- und Rückwärts-Einschübe) wirkt die ILIAS gegenüber dem GILGAMESCH „aufgeklärt“ europäisch.

4. TAFEL
Die Tafel beschreibt den langen Weg zum Libanon-Gebirge, den die beiden riesigen Helden in Eilmärschen zurücklegen.
Dabei klingt zum ersten Mal das Grundthema des Epos an: die Angst des Maulhelden GILGAMESCH. Er bittet den Sonnengott um ein gutes Vorzeichen im Traum. ENKIDU deutet den Traum und macht ihm Mut.
„’Halte dich fest an mir, mein Freund, wir wollen weiterziehen,..
Es rufe dein H e r z nach Gefecht!
Vergiß den Tod, statt dessen suche nach dem Leben!’
Den fernen Berg erreichten die beiden gemeinsam.“

5. TAFEL
Es gelingt den beiden Freunden, das Monster HUMBABA unter äußerster Gefahr zu erstechen. HUMBABA stößt vorher einen fürchterlichen Fluch aus, der Folgen haben wird.
Dann bestaunen die Helden die kostbaren himmelhohen Zedern im Wald. Aus der höchsten fertigt ENKIDU eine 30 Meter hohe Tempeltür als versöhnendes Geschenk für die Götter. Die Tür laden sie auf ein Floß, hauen dem Körper des HUMBABA den Kopf ab, nehmen ihn mit und lassen sich auf dem Floß zurück nach URUK treiben.
ENKIDU hat böse Vorahnungen: Werden die Götter den Mord an HUMBABA ungerächt lassen?

6. TAFEL
In URUK angekommen, reinigt sich GILGAMESCH, wäscht seine verfilzten Haare, wirft die zerrissenen Kleider weg und setzt sich seine Krone aufs Haupt.
„Wegen der Schönheit des Gilgamesch erhob da die Fürstin Ischtar die Augen
‚Komm doch her, Gilgamesch, du, sei Bräutigam,
Du sei mein Mann, und ich will deine Gattin sein!
Auf den Knien liegen, dir zu Füßen, sollen Könige, Mächtige und Fürsten!“

Unbesonnen und selbstherrlich wie immer herrscht GILGAMESCH sie beleidigend an:
„Warum sollte ich gerade dich zur Gattin nehmen?
Du Frost, der kein Eis gefrieren lässt!
Du Elefant, der seine eigene Decke frisst!
Du Pech, das den, der’s trägt, beschmiert!“

Die Litanei der Beschimpfungen wird vom Dichter seitenlang ausgeführt.
Da stürzt ISCHTAR heulend zu ihrem Vater. Er soll den Himmelsstier nach URUK schicken und die ganze Stadt zertrampeln lassen. Der Himmelsgott zögert. Schließlich schickt er den Himmelsstier nach URUK.
„Als der Himmelsstier ein drittes Mal schnaubte, tat sich eine Grube auf,
 Und dreihundert junge Männer von URUK fielen einer nach dem anderen hinein.“

ENKIDU rettet die Situation.
„Mit meinem starken Tritt will ich ihn fest am Boden halten.
Doch du, Gilgamesch, wirst wie ein Schlachter, heldenhaft und gekonnt,
Deinen Dolch anlegen zwischen dem Ansatz des Genicks bei den Hörnern!“

GILGAMESCH tötet den Himmelsstier und lässt sich von den Leuten in URUK als den „Ruhmreichsten unter den Mannen“ feiern. ISCHTAR verflucht ihn “mit gellendem Schrei“.

7. TAFEL
ENKIDU hat in der Nacht nach den Freudenfeiern einen Traum: Die Götter haben beschlossen, dass Enkidu zur Strafe für den Mord an Humbaba und an dem Himmelsstier sterben soll.
Am nächsten Morgen liegt ENKIDU gelähmt in schwerem Fieber. Im Wahn verklagt er die, die ihn aus der Steppe gelockt haben, den Fallensteller und SCHAMKAT, die Tempeldirne. Dann bereut er aber seine ungerechten Vorwürfe und verfällt.
„Als der elfte und auch der zwölfte Tag verstrichen war.
 Da bettete der Tod Enkidu auf sein Sterbelager.“

8. TAFEL
GILGAMESCH verzweifelt.
 „Um deinetwillen, Enkidu, mögen weinen der Buchsbaum, die Zypresse und die Zeder,
 Um deinetwillen mögen weinen der Bär, die Hyäne, der Panther,
 Das Herdenvieh und die wilden Tiere der Steppe!
 Ich selber werde Enkidu, meinen Freund, beweinen,
 Wie ein Klageweib werde ich bitterlich klagen!“

Ganz entsprechend seinem maßlosen Charakter ruft GILGAMESCH die ganze Schöpfung an, seine Klage mitzutragen. Die nicht endenden Klagen füllen die 8.Tafel. Sie münden in die Herstellung eines prachtvollen Abbildes des Freundes.
„Die Gliedmaßen meines Freundes sind aus Silber,
 die Augenbrauen aus Lapislazuli, deine Brust ist aus Gold.
 Dein Körper ist aus Zedernholz.
 Des Erdbodens Fürsten werden dir die Füße küssen,
 doch ich selbst werde, wenn du nicht mehr bist,
 an meinem Leib verfilzen lassen das Haar.
 Ja, ich werde mich in ein Löwenfell kleiden und umherlaufen in der Steppe.“

Nachdem er den toten Freund mit Kleinodien geschmückt hat, erfasst ihn das Grauen vor dem eigenen Sterben..
„Er weicht vor dem Freund zurück, als sei der mit einem Fluch belegt.“

Der positive Beginn des Epos ist mit der 8. Tafel überschritten. Jetzt geht es mit GILGAMESCH bergab.
Aus dem hochfahrenden König wird ein angstgeschüttelter einsamer Mensch, der in die Wüste flieht, um ein Mittel gegen das Sterbenmüssen zu finden.

9. TAFEL
In der Steppe umherirrend spricht er mit sich selbst:
„Auch ich werde sterben, und werde nicht auch ich so wie Enkidu sein?
 Ich suche den Weg zu Uta-napischti, meinem Vater, der mir voranging!
 Das Geheimnis von Tod und Leben soll er mir sagen!“

Auf diesem Weg hat er Wasser, Wüste und Berge zu überwinden.
„ Als er an den Zwillingsberg heran kam,
 welcher täglich den Aufgang der Sonne bewacht,
 -seine beiden Gipfel stützen das Himmelsgewölbe,
 unten reicht deren Brust bis an die Unterwelt heran -,
 da haben Skorpionmenschen Wacht an dessen Tor.“

Ein aus Skorpionkörper und Menschengesicht verschmolzenes Wesen hält ihn vor dem Tor zum Berg auf:
„Wie nur kamst du den weiten Weg hierher?
 Wie nur konntest du die Flüsse überwinden, deren Querung so gefährlich ist?“

GILGAMESCH nennt das einzige Ziel, das ihn treibt:
„Ich suche den Weg zu Uta-napischti, meinem Vater, der mir voranging,
 das Geheimnis von Tod und Leben soll er mir offenbaren!“

Der Skorpionmensch erkennt „den König aus dem Fleisch der Götter“ und lässt ihn passieren.
Unmerklich überschreitet GILGAMESCH die Pforte zwischen der irdischen und himmlischen Welt.

GILGAMESCH tritt in den finsteren Tunnel der Zwillingsberge ein, durch den die Sonne in der Nacht läuft
„Nach der zwölften Stunde trat Gilgamesch heraus, noch vor der Sonne,
 auf die glitzernden bunten Bäume der Götter ging er geradewegs zu
-ein Karneolbaum trägt da seine Früchte,
-ein Lapislazulibaum trägt Blätter da-.
Als Gilgamesch voller Staunen umherging,
da erhob sie ihr Haupt: Zu ihm schaut sie her.“

10. TAFEL
Die zu ihm herschaut, ist SIDURI, eine Wirtin, die in der himmlischen Welt eine Kneipe betreibt.
„Tief ist sie in eine Decke gehüllt, verdeckt mit einem Schleier ist ihr Gesicht.“
In Wirklichkeit ist die Verschleierte die Göttin ISCHTAR. Sie fragt ihn, warum er so abgerissen und abgezehrt daherläuft,

„Mein Freund, den ich so sehr liebe,
es legte Hand an ihn das Schicksal der Menschen.
Sechs Tage und sieben Nächte habe ich um ihn geweint.
Ich gab ihn nicht her, um ihn zu bestatten,
bis ihm der Wurm aus der Nase fiel -
Da überkam mich die Furcht, dass auch ich sterben könnte,
Ich begann den Tod zu fürchten und so laufe ich in der Steppe umher.“

GILGAMESCH drängt die Wirtin, ihm den Weg zu Uta-napischti zu nennen. Die Schankwirtin erklärt ihm, dass kein Mensch den Ort der Unsterblichen finden kann. Sein Urahn, den GILGAMESCH sucht, sei nur durch einen Fehler der Götter unsterblich geworden. Aber sie lässt ihm eine winzige Chance.
„Wenn es nur eine Möglichkeit gibt, dann fahre mit dem Schiffer dort hinüber.
 Wenn es keine Möglichkeit gibt, dann lasse ab und kehre um!“

GILGAMESCH überredet den Fährmann, ihn in sein Boot zu nehmen. Der Weg zu den Inseln der Seeligen führt durch die bleischweren Wasser des Todes. Mit unmäßigen Anstrengungen, Ungeschicklichkeiten und Qualen zwingt GILGAMESCH das Boot durch die bleiernen Wasser und trifft am Ufer seinen Urahn Uta-napischti.

11. TAFEL
GILGAMESCH wundert sich, dass sein Urahn so aussieht wie ein Mensch und ist doch unsterblich geworden! –Wie denn?
„Uta-napischti sagt zu ihm, sagt zu Gilgamesch;
Geheime Dinge will ich, Gilgamesch, dir offenbaren,
und dir will ich ein Geheimnis der Götter erzählen!“

Der Urahn erzählt ihm die Geschichte einer SINTFLUT.
„Die Sintflut zu schicken, danach verlangte den großen Göttern ihr H e r z!“

Der Urahn UTA-NAPISCHTI hatte davon Kenntnis erhalten mit einer geheimen Botschaft, ein Schiff zu bauen:
„Hole den Samen all dessen, was atmet, herauf in das Innere des Schiffs!

-Ich belud es mit allem Gold, das ich besaß.
Ich belud es mit allem, das ich besaß an jeglichem Samen von dem, das atmet.
Sechs Tage und sieben Nächte lang
Gehen Wind und Wetter, Sturm und Sintflut brausen einher.
Doch als der siebente Tag anbrach,
begann der Sturm, sich aufzuhellen und die Sintflut nahm ein Ende“

Die Geschichte geht so weiter, wie sie Jahrhunderte später im Buch GENESIS des Alten Testaments über NOAH erzählt wird.
Die Forschung hat vermutet, dass diese mythische Geschichte im ganzen Vorderen Orient erzählt worden ist und vielleicht auf den realen Kern einer geologischen Katastrophe hindeutet. Neuere Kenntnisse gehen eher davon aus, dass es sich bei der ‚Sintflut’ im GILGAMESCH –Epos um mehrfach aufgetretene Überschwemmungen des EUPHRAT gehandelt hat.

Im Epos endet die Sintflut-Geschichte so, dass die Götter über das Wüten ihrer eigenen Untat entsetzt sind und aus Reue den einzigen Menschen der Erde, die überlebt haben, Uta.napischti und seiner Frau, die Unsterblichkeit geschenkt haben.

Uta- napischti, der unsterbliche Urahn, missbilligt das haltlose Umherziehen und Heulen des GILGAMESCH. Er weist ihn an, endlich seine wahre Aufgabe als König und Hirte seines Volkes zu anzunehmen. Er lässt GILGAMESCH waschen, pflegen und seinen Königsmantel anlegen und schickt ihn in würdiger Aufmachung nach URUK zurück.
Vorher verrät er ihm noch listig das Geheimnis des Lebenskrautes, das tief in den Wassern der Unterwelt wächst.
GILGAMESCH möge es sich holen – es mache zwar nicht unsterblich, aber verleihe ihm ewige Jugend! Der verlockende Hinweis sollte GILGAMESCH bewusst werden lassen, wie selbstverliebt sein Streben ist.
Ohne Zögern bindet sich GILGAMESCH schwere Steine an die Füße, taucht unter, findet das Kraut und wird vom Meer wieder an Land geworfen, wo der Schiffer auf ihn wartet, der nicht mehr zu den Inseln der Seeligen zurückfahren darf, weil er einen sterblichen Menschen dorthin gebracht hat.
Gemeinsam laufen die beiden viele Tagesmärsche nach URUK.

An einem Brunnen will GILGAMESCH Rast machen, um sich zu erfrischen. Das kostbare Kraut legt er auf den Brunnenrand. Kaum ist er eingetaucht, fährt eine Schlange aus dem Wasser, schnappt das duftende Kraut und taucht ab.

„An jenem Tag aber setzte Gilgamesch sich nieder, um zu weinen,
 dabei laufen Tränenströme ihm über beide Wangen,
‚Für wen nur, der mir angehört, verbrauche ich mein H e rz b l u t?
Nicht zu meinen eigenen Gunsten tat ich Gutes,
bloß dem ‚Löwen des Erdreichs’ (der Schlange!) habe ich Gutes erwiesen!“

„An jenem Tag“ erkennt GILGAMESCH die Selbstbezogenheit aller seiner Unternehmungen. „Für wen mein Herzblut?“ Er ist in der Wüste allein, mit sich selbst beschäftigt, aber für niemanden nützlich. So wird der Lebenssinn verfehlt. Unter Tränen wird er hellsichtig und nimmt endlich die ihm bestimmte Aufgabe an: König und Schutzherr für sein Volk zu sein.

Schließlich angekommen in URUK steigt er mit seinem Begleiter, dem Schiffer, auf die starke Mauer von URUK und zeigt ihm stolz die Ausmaße der Stadt.
„Eine ganze Quadratmeile ist die Stadt,
eine ganze Quadratmeile Gartenland,
eine ganze Quadratmeile ist Aue,
eine halbe Quadratmeile ist der Tempel der Ischtar.
Drei Quadratmeilen und eine halbe, das ist URUK, das sind die Maße.“

Mit diesem Vers schließt das GILGAMESCH-Epos.

Mit ihm schließt es wieder an an die 1. Tafel, auf der der gleiche Vers steht, verbunden mit der Lobpreisung des großen Königs und seiner Lebensstationen:
„Der das Verborgene kannte, der, dem alles bewusst.
 Gilgamesch, der die Tiefe sah, die Grundfeste des Landes.
 Vertraut sind ihm die Göttersitze allesamt.
 Allumfassende Weisheit erwarb er in jeglichen Dingen,
 er brachte Kunde von der Zeit vor der Flut.
 Einen weiten Weg kam er her, um zwar müde,
 doch endlich zur Ruhe gekommen zu sein.“

Jetzt übt GILGAMESCH sein Königtum in Uruk aus:
„Er geht vorne als erster voran,
 auch hinten geht er als Zuversicht seiner Brüder.
 Festes Ufer und Schirm seiner Truppen.
 Der die Gebirgsdurchgänge erschloss,
 der die Brunnen an den Rändern der Berge grub,
 der den Ozean, das weite Meer, überquerte
 bis hin zum Aufgang der Sonne.“

Aber das Beste tut er, indem er die Stadt URUK wieder zum ‚Kulturland’ macht, nachdem die Sintflut die Tempel der Götter beschädigt und zerstört hatte.

Merkwürdig klingt in einem 4000 Jahre alten Text das Wort ‚Kulturland’, das schon in der 1.Tafel genannt wird: „Nicht sind ihm (Enkidu) die Menschen, nicht das Kulturland bekannt“ - Man muss sich hier wohl unter dem Begriff etwas anderes vorstellen als wir es tun. In dieser mythischen Welt ist Kultur der KULT, mit dem die Götter verehrt und verwöhnt werden, und der Ort dafür ist die Stadt mit ihren Tempeln. Hier werden Geschenke, Kostbarkeiten, Bildwerke, Weihetexte den Göttern hingestellt, damit Harmonie herrscht zwischen Göttern und Menschen.

Die Kostbarkeiten, Bildwerke, großen Texte sind unserem Kultur-Begriff, in dem das Wort ‚Kult’ steckt, geblieben; die Götter sind uns abhanden gekommen. Im GILGAMESCH-Epos ist Kultur der Dienst an den Göttern. Wenn der König GILGAMESCH die Tempel nach der großen Flut wieder aufrichtet, tut er das Wichtigste für seine Stadt: er stellt die freundliche Verbindung zu den Göttern wieder her. Dafür wird er von ihnen belohnt: er wird zwar nicht unsterblich auf Erden, aber er wird nach seinem Tod von den Göttern zum Fürsten der Unterwelt erhoben.

Das ist die unsterbliche Geschichte des Königs von URUK im Zweistromland SUMER (IRAK), dem ersten Kulturland, das die Historie kennt.

Eine vorsichtige Abwägung zwischen den beiden Epen.
Diese beiden Türme der Weltliteratur in der Qualität zu vergleichen, ist unzulässig.
Sie zu vergleichen erlaubt vielleicht die Eingangs-Frage: Welches Epos steht unserem modernen Verständnis näher? Welches Menschenbild überzeugt uns mehr?

Fasst man es kurz, könnte man sagen:
Das GILGAMESCH-Epos beschreibt den Menschen so, wie er ist, in seiner Existenzangst.
Die ILIAS beschreibt den Menschen, wie er stilisiert wird durch eine Gesellschaft, zum Helden.

Das GILGAMESCH-Epos bekennt offen und panisch die natürliche Angst aller Menschen vor ihrem Tod. („..bis ihm der Wurm aus der Nase fiel“) Im GILGAMESCH spricht das Herz einfach und schrecklich die Not des Lebens aus, ohne von einer Gesellschaftsform dressiert zu sein.

In der ILIAS biegt eine beherrschende Gesellschaftsordnung die Menschen um zu Helden, die glauben und beweisen, dass das Leben weniger wert ist als der Ruhm. In der ILIAS spricht der Stolz, ohne zu einem besseren Ergebnis zu führen als dem Tod.

In unserer modernen Zeit haben wir viele Helden erleben müssen. Der Gegensatz zwischen GILGAMESCH und ILIAS könnte eine Botschaft für uns haben.
Jede GESELLSCHAFT formt die Menschen ihrer Zeit nach ihren Regeln, Gewohnheiten und Moden – mit guten und mit schlimmen Ergebnissen. Jeder muss selbst prüfen, ob er der gesellschaftlichen Prägung, die ja eine Fremd-Bestimmung ist, folgen will, weil er sie als fördernd erkennt, oder ob er ihr widersteht.

HOMER ist in seiner ILIAS ein weiser Lehrer. Er sieht die Gefahren einer gesellschaftlichen Prägung. Aber er erkennt auch ihre großartigen Möglichkeiten. Er lässt sein Epos enden mit dem siegreichen Achill, dem er eine Zähmung seiner tierhaften Seite zukommen lässt.

Mit solchen gezähmten Helden, die einer für den anderen einstehen, haben die Griechen die aussichtslos erscheinenden Perser-Kriege gewonnen und ihre größte, klassische Epoche erreicht.

Das konnte HOMER noch nicht wissen, hatte aber wohl eine derartige Wunsch-Vorstellung für den Geist seiner Griechen vor Augen: Tapfere Stärke, durch Humanität gezähmt. Man könnte ihm zuhören.

Die Konzeption des GILGAMESCH geht in eine andere Richtung.
Sie stößt ohne Ornament vor zum „Geworfensein“ des Menschen in die Sterblichkeit, unserem bittersten Problem.
Sie dreht und wendet das Problem, will ihm ausweichen, findet keinen anderen Ausweg, als die Bestimmung zum Sterben tapfer zu akzeptieren.
Tapfer bedeutet im GILGAMESCH, nützlich zu sein für die Menschengemeinschaft und von sich selbst abzusehen.
Ein hehres Ziel; aber ein bisschen schwer zu erfüllen.. Wenn man es schafft, kann daraus Stolz entstehen.

Man merkt im Vergleich, dass es in beiden Epen Tücken gibt für den Gewinn einer brauchbaren Botschaft:
- In der Moderne braucht man den Helden-Geist des HOMER weniger.
- Der Altruismus, wie ihn das GILGAMESCH vorschlägt, ist in der Realisierung schwierig.

Aber in einem Punkt kann man sich deutlich entscheiden für eines der beiden Epen:
Das Menschenbild im GILGAMESCH ist wahrer als das in der ILIAS. Unsere Grund-Angst um unsere Existenz zeigt das GILGAMESCH-Epos so früh, so nackt und bloß, so zeitlos, dass es uns näher kommt als die ILIAS.
Die Botschaft des GILGAMESCH-Epos ist einfach, und eine andere hat es nicht:
Das Schicksal des Menschen bleibt ewig das gleiche; wir nehmen es an, nicht eben gerne.

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