Sonntag, Oktober 11, 2015

„SCHLÄFT EIN LIED IN ALLEN DINGEN.“ - Moderne und Romantik -























Eines der berühmtesten, auch kürzesten, Gedichte der deutschen Literatur schrieb der romantische Dichter JOSEPH Freiherr von EICHENDORFF (1788 - 1857):

     „Wünschelrute“
     Schläft ein Lied in allen Dingen,
     Die da träumen fort und fort,
     Und die Welt hebt an zu singen,
     Triffst du nur das Zauberwort.

Seit seinem Erscheinen im Jahr 1838 wurde das kleine Gedicht endlos interpretiert, gezählt,
gedreht und gewendet, um seinen Sinn zu erkennen. Alle Rätselei scheiterte spätestens an der letzten Frage: - Wie heißt denn dieses Zauberwort?

So geht es mit Romantischer Dichtung manches Mal. Sie klingt für uns schön, sodass wir sie lieben können. Wir wittern auch Tiefsinn. Aber wenn man den Sinn fassen will, entzieht er sich dem Verständnis. Man gibt auf und hält diese Dunkelheit eben für das „Romantische“.

Man kann das Gedicht von EICHENDORFF nicht mehr romantisch lesen, ohne die Weltsicht und Philosophie der Romantik zu kennen. Diese ist uns aber kaum mehr vertraut.
Man kann das Gedicht aber verständlicher machen, wenn man es mit einfachen Wörtern unserer modernen Sprache liest und deutet.

Für die Strophe scheinen verschiedene Richtungen der Interpretation möglich zu sein.

Eine Richtung könnte die Strophe deuten als Hinweis auf die Problematik der DICHTER und des DICHTENS, also einer Problematik für einen kleinen Teil der Menschheit.

Eine andere Deutung der Strophe könnte eine Überzeugung EICHENDORFFS ausdrücken, dass die Qualität unserer SPRACHE die Struktur unserer Welt enthüllt. Diese Deutung würde alle Menschen betreffen, die eine Verrohung unserer Alltagssprache irritiert.

Deutet man die Strophe als einen Gedanken über DICHTER und DICHTUNG, kann man sie recht gut in moderner Sprache formulieren:
Die normalerweise stummen Dinge in der Welt werden durch den Zauber der poetischen Sprache zum Sprechen gebracht.

     „Schläft ein Lied in allen Dingen,
     Die da träumen fort und fort,
     Und die Welt hebt an zu singen,
     Triffst du nur das Zauberwort.“

Die vier Zeilen der Strophe zeichnen das Bild einer verborgenen Möglichkeit aller Dinge zum Gedicht („Lied“), wenn ein Dichter mit Inspiration sie in die Hand nimmt.
Der Einfall eines Dichters kann aus jedem unauffälligen Ding ein poetisches Gebilde machen, das uns freut, weil es „singt“. Die erfreuliche Wirkung von Poesie kann aber nur entstehen, wenn dem Autor der „Zauber“ der richtigen Wortwahl gelingt, welcher den Leser anrührt.
Mit dem „du“ in der letzten Zeile spricht der Dichter - leise beunruhigt - sich selbst an; denn die ganze Wirkung seiner Arbeit hängt von der Qualität seiner Wortschöpfungen ab. Trifft er den Zauber der richtigen Wortwahl nicht, ist sein Gedicht wertlos, misslungen, und er hat seinen Beruf verfehlt. Trifft er aber die richtigen Worte, dann erreicht er das, was der zentrale Wunsch EICHENDORFFS zu sein scheint: Die Welt zum Singen zu bringen. Für einen Dichter ist dieser Wunsch durchaus verständlich.

Es ist sehr gut möglich, dass EICHENDORFFS Thema in seiner Strophe nur die Problematik der DICHTER und des DICHTENS ist. Dazu gibt es im Text der Strophe deutlichere Hinweise als für eine andere Interpretation. In allen Jahrhunderten gab es nämlich eine Reihe von Gedichten, in denen Dichter nur etwas zu ihrer eigenen Problematik der DICHTER-EXISTENZ gesagt haben, weil eine solche selten leicht war.

Häufiger sind aber Gedichte, deren Aussagen für uns alle, für die Gefühle der Menschheit gelten.

     Wenn GOETHE dichtet:
      „…welch Glück geliebt zu werden,
      und lieben, Götter, welch ein Glück!“

dann denken die, die gerade in diesem glücklichen Zustand sind: “JA, das stimmt!“
Was GOETHE während seiner Liebschaft mit Friederike Brion, der Pfarrerstochter aus Sesenheim, fühlte, gilt heute genau so für viele frisch Verliebte.

In dem kleinen Gedicht von EICHENDORFF allerdings etwas zu finden, das für uns alle gilt, nicht nur für Dichter und Dichtung, ist schwieriger.
Es gibt aber einen Anreiz, danach zu suchen, weil die kleine Strophe schon lange als Quintessenz von EICHENDORFFS spätem Denken angesehen wird und man die Spuren davon vielleicht im Gedicht findet.
Zuvor soll gesagt werden, dass man sich bei der folgenden Interpretation ausschließlich auf den TEXT der Strophe stützen will.
Die vielfältigen Einflüsse, die die Dichtung des Spätromantikers EICHENDORFF von dem Kreis der romantischen Dichter und Philosophen erfahren hat, werden dabei nicht berührt oder berücksichtigt, weil man davon ausgehen kann, dass ein gutes Gedicht sich ohne nähere Kenntnis über den Autor selbst erklärt.

Der Freiherr von Eichendorff ist etwa 50 Jahre alt, als er die vier rätselhaften Zeilen veröffentlicht. Er stammt aus einem katholischen schlesischen Adelsgeschlecht und wurde auf dem Schlossgut LUBOWITZ seiner Eltern geboren. Das Schloss in seinen einsamen, rauschenden, die Höhen weit überblickenden Gärten wurde zum lebenslang schmerzlich vermissten Paradies seiner Kindheit. („...Du meiner Lust und Wehen andächtger Aufenthalt.“)

Der adelige Vater verspekulierte die Besitzungen der Familie. Der junge Eichendorff und ein ihm eng verbundener Bruder mussten einen Brotberuf ergreifen. Sie studierten beide Juristerei, examinierten in Wien. Joseph v. Eichendorff wurde Staatsbeamter in Berlin, welches er nie lieben lernte. Er fand dort einen bescheidenen Platz im Kulturministerium, weil der preußische Staat bei seinen Beamten eine Verbindung von Fachwissen und guter Bildung literarischer Art schätzte.
Joseph v. Eichendorff war also Jahrzehnte lang Beamter, und Dichter. Man schätzt seine Laufbahn so ein, dass ihr Freiraum seiner dichterischen Produktion förderlich war.

WERKE: 1826, also etwa 10 Jahre vor dem 4-Zeiler „Wünschelrute“, hatte Eichendorff sein Meisterwerk vorgelegt: „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Diese Novelle ist Höhepunkt und Ausklang der deutschen Romantik.
ZITAT: „da trat der Vater aus dem Haus,…der sagte zu mir: “Du Taugenichts, ich kann dich hier nicht länger füttern. – der Frühling steht vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot“
Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus..
Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinaus strich…“

Der schwebend leichte, leichtherzige Ton in der Erzählweise vom Taugenichts, welcher von dem einen Himmel seiner Wünsche ohne sein Zutun in den nächsten gehoben zu werden scheint, und am Ende wird „alles, alles gut“, ist in der nachdenklichen deutschen Literatur eine Ausnahme. Entsprechend wird er geliebt.
Man hat den streunenden, Glück suchenden Taugenichts als poetischen Protest von Eichendorff gegen die Arbeitswut interpretiert, in die die Industrielle Revolution ihre Menschen hineinzog. Der Taugenichts entzieht sich glücklich.
Diesem Ton steht in der Novelle allerdings ein kontrastierendes Element gegenüber: Der Schmerz über Einsamkeit, hinter der Todessehnsucht erscheint.

      „Ich   s c h e i n  wohl froher Dinge
      Und schaffe auf und ab,
      Und ob das Herz zerspringe,
      Ich grabe fort und singe
      Und grab’ mir bald mein Grab.“

… und ich so arm bin und verspottet und verlassen von der Welt - Und als alle Anderen hinter den Büschen verschwunden waren, da konnt’ ich mich nicht länger halten und ich warf mich in das Gras hin und weinte bitterlich.“
Das Verschwinden seiner Gesellen auf seiner Abenteuer-Reise stürzt ihn in eine tiefe Traurigkeit.

Hier tritt bereits im Taugenichts ein Motiv auf, das für eine andere Interpretation des
Gedichts „Wünschelrute“ von Bedeutung sein kann: die Klage über eine BEZIEHUNGSLOSIGKEIT in einer großen verlassenen Welt.

DAS GEDICHT „WÜNSCHELRUTE“.
Zur FORM der Strophe:
Die Strophe ist äußerst schlicht aus 4 Zeilen mit wechselnden Endreimen (a,b,a,b,) und mit vier Trochäen (LANG/ kurz) pro Zeile gebaut. Die FORM der Strophe scheint, mit ihrem einfachen Bau, weniger wichtig zu sein als ihr INHALT:

     „Wünschelrute"
     Schläft ein Lied in allen Dingen,
     Die da träumen fort und fort.
     Und die Welt hebt an zu singen,
     Triffst du nur das Zauberwort

Das ganze Gedicht, samt Überschrift, umfasst 25 Wörter. Bei der geringen Anzahl an Wörtern wird jedes Wort bedeutsam sein.

Die ÜBERSCHRFT "Wünschelrute’
Wer eine Wünschelrute in die Hand nimmt, hat das Ziel und die Hoffnung, beim Zucken der Rute etwas Wertvolles zu finden. (- meist eine Wasserader.)
Das kann gelingen oder auch nicht. Nicht alle Menschen haben die Gabe, mit einer Wünschelrute umzugehen. Der Einsatz einer Wünschelrute ist mit Hoffnungen verbunden, bleibt aber eine unsichere Sache.
Die ÜBERSCHRIFT des Vierzeilers deutet auf einen Wunsch hin, dessen Erfüllung unsicher erscheint. Trifft man das „Zauberwort“, das unsere Welt zum singen bringt?
Die beiden der Überschrift folgenden Sätze beschreiben einen passiven und einen aktiven Zustand der Welt.

     Der ERSTE SATZ.
     Der Dichter behauptet:
     „Schläft ein Lied in allen Dingen,
     Die da träumen fort und fort“

Der Dichter behauptet, dass alle Dinge in dieser Welt fortwährend „träumen“ und dabei ein „Lied“ in sich tragen, das „schläft“.
Der moderne Leser fragt sich:
-Was heißt es, dass „Dinge träumen“?
-Was heißt es, dass „Lieder schlafen“?
Im modernen Verständnis sind „träumende Dinge“ vielleicht solche, die einem nicht auffallen, die man kaum registriert.
„Schlafende Lieder“ machen offenbar keine Töne; sie sind nicht hörbar.

Bei diesen Fragen merkt man, dass EICHENDORFF die beiden Sätze seines Gedichtes nicht umsonst mit einem ‚UND’ verbunden hat. Sie gehören zusammen! Der Zustand der Welt im 1.Satz soll sich wohl in den Zustand des 2.Satzes wandeln: Die Welt soll vom Schlafen zum Erwachen gebracht werden!
 Zwischen „Träumen“ im Schlaf und „Singen“ im Wachsein liegt ein bezeichnender Unterschied. Beim „Träumen“ tauchen viele Traumstücke ungeordnet auf. Ihr Reichtum mag groß sein, aber der Zusammenhang bleibt unklar.
Beim „Singen“ ordnen sich die Worte eines Liedes in einen Zusammenhang; das Lied will beim Singen etwas mitteilen; und sei es nur seine gute Stimmung.

Entsprechen die „träumenden“ Dinge einer Realität in unserem Alltag?
In gewisser Weise, ja.
An uns rauschen täglich Massen von Dingen flüchtig vorbei, die wir kaum sehen oder hören. Wo kämen wir hin, wenn wir beim Stadtgang jeden Passanten, jedes Geräusch, alle passierten Straßennamen wahrnehmen und identifizieren wollten? Wir kämen nie vom Fleck.

Wir filtern die 1000 flüchtigen Eindrücke von Dingen nach unseren Interessen.

In einem Schaufenster liegt etwas hübsches Buntes – Ist es ein Kleid? Nein.
Wir schauen genauer hin: es ist eine Tischdecke!
Welcher Vorgang läuft hier ab? Der einer IDENTIFIKATION! Sobald wir das hübsche Bunte mit einem NAMEN identifiziert haben, eröffnet es seine Geschichte: es ist eine Tischdecke für einen Gartentisch. .. Könnte sie zu uns passen?... Die Geschichte läuft…!

Was wir in moderner Sprache neutral eine Geschichte nennen, nennt der Romantiker EICHENDORFF im Vers ein „Lied“.
Nicht ganz zu unrecht; im Begriff „Lied“ schwingt etwas Positives, gut Gestimmtes mit.
(Eine „Geschichte“ kann auch schlimm ausgehen. Das drückt der Romantiker EICHENDORFF weg.)
Wie wird in der Moderne aus einer Geschichte ein „Lied“, welches, - nach EICHENDORFF - in jedem Ding schlummert? Ist das Wort „Lied“ ein Überbleibsel aus einer romantisch formulierenden Epoche?
Nein.
Kürzlich titelte eine Tageszeitung unter: ‚Aus Wissenschaft und Forschung’:
„AUCH MÄUSE SINGEN FÜR IHRE WEIBCHEN.“
Der Zeitungstext fährt fort:
„Männliche Mäuse benutzen unterschiedliche und erstaunlich komplexe Gesänge, um ihre Weibchen zu bezirzen. Die Fähigkeit der Nager ähnelt der von Singvögeln. Die Ultraschall-Töne der Mäuse sind für Menschen nicht hörbar.“
Die Neurobiologen fanden heraus, dass Männchen besonders laut und komplex singen, wenn sie frischen Urin eines Weibchens riechen, dieses aber nicht sehen.
Ist das Weibchen dagegen sichtbar, werden die Gesänge der Männchen länger und einfacher.

Unbefangen und selbstverständlich benutzt die Tages-Sprache der Zeitung das Wort „Gesänge“, wie der Dichter EICHENDORFF das Wort „Lied“.
Das „Lied“ ist in der Tageszeitung keine romantische Verschlüsselung, sondern eine moderne Formulierung für eine durch Gesang unterstützte Partner-Suche, mit dem Ziel der Fortpflanzung. Der GESANG der Mäuse hat Zweck und Ziel für die Realität der Art-Erhaltung
Wird das romantische Wort „Lied“ seiner Romantik entkleidet, weist es auf eine Hypothese der Moderne hin , dass möglicherweise viele Dinge GESÄNGE/ LIEDER aussenden, die aber für uns MENSCHEN wegen physikalischer Besonderheiten vielfach nicht hörbar sind.
Der Dichter kann sagen: Sie „schlafen“.
Die 1. Behauptung von EICHENDORFF: „Schläft ein Lied in allen Dingen..“ scheint nach sachlicher Beobachtung Hintergründe in der Realität zu haben.
- Hat das extrem kurze Gedicht von EICHENDORFF einen stärkeren Realitätsbezug als seine geheimnisvolle Formulierung vermuten lässt -?

EICHENDORFF bleibt im ersten Satz seiner Strophe lapidar. Er lässt die Dinge immerfort „träumen“ mit ihrem „Lied“, wenn unser Zugriff sie nicht aufweckt („trifft“)

     Vom Aufwecken spricht
     DER ZWEITE SATZ der Strophe:
     „Und die Welt hebt an zu singen,
     Triffst du nur das Zauberwort.“

Zunächst bemerkt man, dass im 2. Satz eine entscheidende Veränderung eingetreten ist!
Ein „DU“ tritt auf, und damit ein ICH , welches das DU anspricht.
DU und ICH, wir Menschen, können die Dinge in der Welt zum Singen bringen, sagt der Dichter.
Auf welche Weise?, fragt sich der Leser.
Indem wir sie mit dem richtigen Wort ansprechen, behauptet EICHENDORFF.
Was ist das RICHTIGE Wort zunächst anderes als der NAME, durch den man ein Ding seinem richtigen Bereich zuordnen kann? Jedes Kind lernt seine Welt kennen mit der Frage: „Was ist das? Wie heißt das?“
Der NAME hebt die Dinge aus der Unbestimmtheit und macht so eine Beschäftigung mit ihnen möglich.
Was ist eine Beschäftigung anderes als der Aufbau einer BEZIEHUNG zu etwas?
Haben wir den Namen eines Dinges erkannt, beginnt es, seine Geschichte zu erzählen über seine ART und seinen CHARAKTER. Erst mit einem Namen, seiner Bezeichnung, haben wir ein Ding identifiziert und können eine Beziehung zu ihm herstellen.
Der NAME scheint zum Zauberwort zu gehören..

Ein praktisches Beispiel:
Man steht auf einer Wiese und sieht mit flüchtigem Blick ein Blatt auf sich zu rollen.
Irgendetwas irritiert. Man schaut noch mal hin, aufmerksamer, und sieht: Das ist kein Blatt, das ist eine heranhüpfende Amsel! Der richtige Name ist gefunden und hat die flüchtige Erscheinung identifiziert.
Interesse erwacht. Man kann die schwarze runde Brust betrachten, den gelben Schnabel.
Das Tier scheut nicht; es hüpft näher heran. Wir freuen uns. Eine BEZIEHUNG zu dem Wesen, das sich ganz in unsere Nähe traut, entsteht; EMPATHIE, vielleicht SYMPATHIE bilden sich.
Wir hoffen vielleicht, das muntere Tier morgen auf unserer Wiese wieder zu sehen. Wir legen einen Apfelschnitz dazu.
Die zufällig entstandene BEZIEHUNG zu einem anderen Wesen verschönt unseren Tag.

Wir brauchen BEZIEHUNGEN in dieser weiten unbekannten Welt zu dem, was mit uns lebt und unser Los teilt, nichts darüber zu wissen, woher wir kommen und wohin wir gehen. EMPATHIE und SYMPATHIE zu Anderen schaffen etwas Wärme und Heimatlichkeit für uns in der unbekannten Welt.
(„ - als ihm die Anderen hinter den Büschen abhanden gekommen sind, wirft sich der Taugenichts ins Gras und „weint bitterlich“)

Am nächsten Morgen ist die Amsel wieder da und pickt an unserem Apfelschnitz. Nach und nach erzählt sie ihre Geschichte. Sie liebt unseren Apfelschnitz am Morgen. Sie fürchtet die Katze, die bald erwacht. Sie teilt ihre Zeit ein zwischen dem Apfelleckerbissen und der erwachenden Katze. Von uns fürchtet sie nichts.
Wir entwickeln eine Liebe zu der Amsel und zu der Katze und suchen die Wege der beiden auseinander zu halten.
Beide Wesen tragen zu einem Sommer mit erfreulichen Gefühlen bei. Beide haben nun einen Anteil an unserem sozialen Netz, das wir uns aus den Personen und Wesen, die uns umgeben, aufbauen.
So nennt man das in der modernen Sprache: Ein soziales Netz.
Eine „Wünschelrute“ wäre hilfreich, um die richtigen Mitglieder für unser soziales Netz zu finden; denn die Herstellung einer harmonierenden Gemeinschaft ist nicht einfach.
Ohne ein stabiles soziales Netz fehlt uns viel auf der Welt. Wir können vereinsamen.

Ein gemeinschaftsorientiertes Verhalten ermöglicht uns die Freude eines Austauschs mit Anderen. Die Welt ist dann nicht mehr so verschlossen, wie der Dichter EICHENDORFF sie „schlafend“ und „träumend“ beschreibt.
Wir normalen Menschen sind aber keine Dichter. Wir lernen aus den Erfahrungen unseres Lebens.

Zu Beginn der Überlegungen wurde gesagt, dass die Strophe von EICHENDORFF als romantisches Gedicht gelesen, kaum mehr verständlich ist. Die Strophe könnte aber im modernen Verständnis als eine Erkenntnis EICHENDORFFS aus den Erfahrungen seines eigenen Lebens gelesen werden. Diese Erfahrungen hatten ihn, früh nach seiner glücklichen Kindheit in den Wäldern, mit der Einsamkeit in den großen Städten bekannt gemacht.
EICHENDORFFS Erkenntnis scheint zu sein, was er in dem glücklichen Ausdruck formuliert: „Und die Welt hebt an zu SINGEN, triffst du nur.“ Trifft unsere Aufmerksamkeit auf etwas oder jemanden, der uns freut, wird etwas in uns lebendig und aktiv. Es „singt“ etwas in uns.
(- Man kann manches Mal bemerken, wann die „schlafende“ Welt zu „singen anhebt“ Es ist morgens gegen 5 Uhr, wenn der vergangene Tag in den neuen übergeht mit den ersten verstreuten Vogelrufen im ansteigenden Licht.
- Wer empfänglich ist, spürt den Zauber der neuen Lebensqualität - und schläft noch einmal gut ein.)

EICHENDORFFS kleines Gedicht repräsentiert das Abwägen zweier Haltungen zur Welt: das „Träumen“ von der Welt (- wie in der Romantik) wird verworfen. Die wache Teilnahme an den offenbar harmonischen („singenden“) Abläufen der Welt wird begrüßt.
Die Erkenntnis des gereiften Dichters EICHENDORFF aus der Erfahrung seines Lebens scheint die ZUWENDUNG, nicht die romantische Abwendung von der Welt zu sein.

Das „Zauberwort“ löst sich dabei als ein bestimmtes Wort wohl auf.
Jeder muss selbst sein Zauberwort finden, mit dem er seine Welt zum Singen bringen kann.
Man sucht oft in seinen nahen Verhältnissen nach einem treffenden, „zaubernden“ Wort, das auftretende Verstimmungen wieder ins Lot bringen könnte. Man trifft das Wort selten genau und alles bleibt verhärtet. Das „Zauberwort“ wurde verfehlt.

Trotz seiner Rätselhaftigkeit ist das „Zauberwort“ das zentrale Wort der 4 Verse.
Es belegt als letztes Wort den dominanten Rang unter allen Wörtern der 4 Verse. Mit dieser Position erhält es Aufforderungs-Charakter, sich mit ihm zu beschäftigen. 

Die Beschäftigung mit der dominanten Position von „Zauberwort“ im Gedicht zeigt vor allem eins: Das Thema dieses Gedichts ist die SPRACHE. Die SPRACHE ist eine Sammlung von Zauberwörtern. Mit welchem Attribut könnte man Sprache reizvoller bezeichnen!

Dann könnte man auf ein Nachdenken über das „Zauberwort“ verfallen. Aber das ist sicher der unfruchtbare Weg.
Über Lyrik muss man nicht nachdenken und sich abarbeiten. Lyrik erlebt man.
Wie?
Indem man in der Lyrik dem Klang von Wörtern nachhorcht, wenn sie aufeinander stoßen und dabei, ähnlich einem Blitz, ein überraschend neues Bild hervorbringen können.
Dichter-Wörter wirken auf moderne Leser manchmal etwas gesucht, unnötig hoch gegriffen.
So einem Wort begegnet man auch in EICHENDORFFS kurzem Gedicht:
„Die Welt HEBT AN zu singen“ - warum beginnt sie nicht einfach zu singen? Man stutzt.

Dann fällt vielleicht auch einem modernen Leser, wie zufällig, ein Gleichklang zu EICHENDORFFS merkwürdiger Wortwahl ein: ANHEBEN – HEBAMME.
Es ist fast nur ein Silben-Tausch; ohne jede Absicht des Dichters.
Aber es stellt sich beim Leser ein Sinn ein!: So wie den „schlafenden“ Wörtern beim aufmerksamen Lesen helleres Verständnis verschafft wird, so hebt die Hebamme Leben ans helle Licht.
Man spürt, EICHENDORFFS merkwürdiges Wort ‚ANHEBEN’ ist richtig gewählt.
Der Dichter weist damit auf einen geheimnisvollen Prozess hin, mit dem gestaltete Sprache Kenntnis schaffen kann für offenbar harmonische Zusammenhänge von allem mit allem in der Welt. So sieht das der Dichter.
Wie kommt wohl EICHENDORFF zu der Überzeugung einer harmonischen („singenden“) Grundstruktur der Welt? Diese Überzeugung wird ja nicht häufig vertreten; die meisten Menschen, auch Dichter, erleben ihre Erfahrungen in der Welt eher dissonant.

Die Frage lässt sich nicht beantworten; könnte aber in einem Zusammenhang stehen mit seinem Nebenberuf als Dichter.
EICHENDORFF hat sehr reizvolle Prosa und exzellente Gedichte geschrieben, die die ganz verschiedenen Lebens-Situationen von Menschen sensibel beschreiben. Beim Gestalten von solchen Gedichten lernte er sicherlich, wie genau die Komposition von Wörtern, Satz-Melodie, vielleicht Reim, beherrscht werden muss, um mit dieser Ordnung ein wirkungsvolles Gedicht herzustellen.
Vielleicht ist er bei dieser Ordnungs-Arbeit am Gedicht zu der Einsicht gekommen, dass unsere Sprach-Grammatik, wenn sie beherrscht wird, harmonische, unkomplizierte Strukturen hat, die den Text-Inhalt ohne weiteres verständlich machen und keine Basteleien erfordern.


EICHENDORFF traut unserer SPRACHE wohl zu, uns über Strukturen unserer Welt zu unterrichten. Unsere harmonisch DICHTENDE SPRACHE als Beispiel für eine vor uns versteckte harmonische Struktur der Welt? - Ist das die zentrale Botschaft des kleinen Gedichts von EICHENDORFF? 
Wahrscheinlich.

Lyrik ist Dichtung und damit eine WORT-Kunst. Das einzige Material, das Lyrik für ihre Wirkung zur Verfügung hat, sind Wörter. Treten Wörter in eine geniale Kombination, welche GOETHE noch treffender als EICHENDORFF herstellen kann, so vermitteln diese Wörter eine Einsicht, die uns vorher so nicht bewusst war. Wenn GOETHE in der zweiten Strophe eines späten Gedichts (1818) schreibt:

     „UM MITTERNACHT“
     „Wenn ich dann ferner in des Lebens Weite
      Zur Liebsten musste, musste, weil sie zog…

dann signalisiert der Zusammenstoß des verdoppelten Verbs: „musste“ stärker als ein ganzer Liebesroman die oft zwingende Unterworfenheit des Menschen unter die Liebe.
Das ist das Ereignis der Lyrik. In GOETHES Gedicht „UM MITTERNACHT“ wird mit der Verdoppelung eines Verbs ein Zauberwort gefunden, das einen Zustand kennzeichnet, der alle Menschen treffen kann.

EICHENDORFFS wenige Verse sagen nichts dazu, wovon die Welt singt, wenn sie, in uns, zu singen anfängt. So wird man davon ausgehen, dass das Singen selbst gemeint ist als eine plötzlich erhellte Stimmung, die eine Beziehung zur Welt erlebt und verarbeiten kann.

Das könnte der Sinn und eine Aufforderung seines Gedichts sein: Finde dein Zauberwort, mit dem deine Welt singt; suche dir Beziehungen, die mit dir harmonieren, damit du auch auf die „DIE FREUDEN DES LEBENS“ triffst (Roman der Französischen Dichterin: Sidonie-Gabrielle COLETTE/ Deutsch: 1961) und die Einsamkeit (des verlassenen Taugenichts) fern hältst.

Der Spätromantiker EICHENDORFF sieht um 1835 eine neue Zeit vor sich, die er hofft, mit seinen Worten und Gedanken verändern zu können. Ordentlich gefügt wie seine vier Verse setzt er politisch auf eine ordentlich gefügte, von erzogenen Charakteren geführte Welt. EICHENDORFF ist ein Dichter…   Es kommt alles total anders.